Zeitenwende (März 2022)

Endlich Krieg. Ich konnte das Wort »Corona« wirklich nicht mehr hören. Corona hatte unser Land lange genug gespalten, in Impfgegner und Haltung- Zeiger, in Schlafschafe und Covidioten, in Spaziergänger und An-die-Maske- Erinnerer.
Allein in meinem Freundeskreis gab es drei Paare, deren Beziehung fast am Impfstatus zerbrochen wäre. Bis ihnen der Krieg den Frieden brachte. Nun liegen sie gemeinsam unter einer Decke und fürchten sich gemeinsam vor einem gemeinsamen Feind. Musste Putin wirklich erst mit der Atombombe drohen, damit Menschen wieder zum Frieden finden? Vor meinem Küchenfenster demonstrieren jetzt ehemalige Impfgegner und Impfbefürworter gemeinsam gegen den Krieg. Everybody stands with ukraine. Everybody is gegen the Putin. Wer noch vor wenigen Wochen Putin verstand – Nato-Osterweiterung und so –, der versteht ihn jetzt nicht mehr. Denn ein Putinversteher will nun wirklich niemand mehr sein – und war es eigentlich noch nie. »Ich habe mich geirrt« ist die gehüstelte Losung der Jetzt-Wieder-alles-versteher. Und weil wir Putin nicht verstehen, wie könnte man auch, sprechen wir das Selbstverständliche aus: »Wir verurteilen Putins Krieg.« Und wer nicht schnell genug das Selbstverständliche ausspricht, vielleicht einfach, weil es einem seltsam erscheint, das sich von selbst verstehende auszusprechen, weil sich das Selbstverständliche dem Wesen nach ja von selbst versteht, den fordern wir laut auf, das Selbstverständliche so laut auszusprechen, dass es jeder laut versteht: »Ja, wir verurteilen Putins Krieg.« Und, als wäre es selbstverständlich, sagen wir »Putins Krieg«. Verstünden wir, warum das Wort »Putins« im Satz »Wir verurteilen Putins Krieg« überflüssig ist, würden wir ja nur »Krieg« verurteilen. Egal wo. Und egal, von wem er geführt würde. Krieg wäre Krieg. Aber selbstverständlich verurteilen wir Krieg, egal wo, egal von wem geführt. Aber wenn es doch so selbstverständlich ist, warum sprechen wir es dann nicht aus? Wo wir doch so gut darin sind, das sich von selbst verstehende auszusprechen. Dann wäre Krieg Krieg. Und wenn Krieg Krieg wäre, dann wäre Kriegsflüchtling Kriegsflüchtling. Aber es gibt doch wohl einen Unterschied zwischen schwarzen, alleinreisenden Männern und alleinreisenden, blonden Frauen mit Kindern. Dieser Unterschied ist wiederum so selbstverständlich, dass man ihn nun wirklich nicht aussprechen muss. Alleinreisende, blonde Frauen – welches Bautzner Braunhemd wird da nicht zum Ersthelfer! Wer es bisher nicht im Herzen fühlte, fühlt es jetzt in der Hose. Wer fordert jetzt »eine Armlänge Abstand« zu den Ukrainerinnen? Die Frage ist ungehörig, selbstverständlich. Der Gedanke ist zynisch. Selbstverständlich. Ich spreche es lieber aus, bevor mich jemand dazu auffordert.
Selbstverständlich wollen wir helfen. Putins Armee schießt auf Kinderkrankenhäuser. Wer da nicht helfen will, dem ist nicht zu helfen. Trotzdem: Wenn Christen statt Moslems vor der Tür stehen, entdecken wir in unseren Wohnungen überraschend viele freie Ecken. Endlich haben wir die Kriegsflüchtlinge, die wir uns immer gewünscht haben. Weil sie zu uns passen.
Als Afghanen an Flugzeugtriebwerken hingen, riefen CDU-Politiker im Wahlkampffieber: »2015 darf sich nicht wiederholen.« Das gilt jetzt selbstverständlich nicht mehr. Der innenpolitische Sprecher erklärt in einem Radiointerview: »Es ist für jeden verständlich, und für mich auch selbstverständlich, dass wir selbstverständlich unseren europäischen Binnenflüchtlingen hier in erster Linie helfen, Schutz und Obhut gewähren.« Dreimal »verständlich« in einem Satz. So selbstverständlich ist inzwischen Rassismus in der CDU. So selbstverständlich, wie selbstverständlich fast der gesamte Bundestag aufsteht und klatscht, wenn der Kanzler einhundert neue Milliarden für den Krieg aus dem Schlüpfer zieht. Die Bundeswehr wurde kaputtgespart. Einhundert neue Milliarden! Die alte Verteidigungsministerin hätte davon eintausend neue Berater angeschafft, die bei einem Stundensatz von zwei Riesen sechs Jahre hätten beraten können, warum den Soldaten Schlüpfer fehlen.
Aber wir haben Zeitenwende. Jetzt werden Haubitzen gekauft, Panzer, Munition. Wer da nicht aufsteht und klatscht, der ist für Putins Krieg. Seit den einhundert neuen Milliarden ist der Aktienkurs von Rheinmetall um fünfzig Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum sank der Kurs von Hugo Boss um fünfzig Prozent. Neue Schlüpfer werden es wohl nicht. Unsere Soldaten müssen weiter frieren. Da frieren wir selbstverständlich mit. Für die Sicherheit der Ukraine. Gas von einem Kriegsverbrecher wollen wir selbstverständlich nicht. Aber wenn Krieg Krieg wäre, dann wäre Kriegsverbrecher auch Kriegsverbrecher. Egal wo der Kriegsverbrecher seine Kriegsverbrechen verbricht. Als die USA in Afghanistan abwechselnd Hochzeitsgesellschaften und Ziegenhirten bombardierten, forderte selbstverständlich keiner den Importstopp von Rohöl, IPhones oder Coca-Cola. Tina Turner musste ihre Welttournee nicht absagen, obwohl sie selbstverständlich mit George W. schonmal gemeinsam Weihnachten feierte. Wir stoppen North Stream 2. Die Außenministerin sagt, die Deutschen sind bereit, für die Sicherheit der Ukraine einen hohen Preis zu zahlen. Wegen unserer moralischen Werte. Norbert Röttgen fordert sogar ein Öl-Embargo. Ich bin selbstverständlich dafür. Putin ist ein Kriegsverbrecher und ich bin E-Bike-Fahrer.
Aber wenn Kriegsverbrecher Kriegsverbrecher wären, dann wären wir selbstverständlich bereit, auch für die Sicherheit des Jemen einen hohen Preis zu zahlen. Kein Öl mehr aus Saudi-Arabien. Wegen unserer moralischen Werte. Der Preis läge dann bei zwölf Euro den Liter Super. Dann wäre Krieg in Deutschland. Putin bräuchte uns nicht mal mit der Atombombe zu drohen. Unser Frieden wäre in dem Moment vorbei, in dem unsere moralischen Werte unsere moralischen Werte würden. Weil wir selbstverständlich für den Frieden wären. Überall auf der Welt. Auch dort, wo unsere Rohstoffe für unsere Smartphones und Elektroautos liegen. Selbstverständlich wären wir dann für Embargos von Coltan, Nickel, Lithium und Seltenen Erden. Wegen unserer moralischen Werte. Die Frage, was dann ein IPad kosten würde, stellt sich nicht – es gäbe keine IPads mehr. Keine Laptops. Keine Teslas. Elon Musk müsste mit einer Seifenkiste ins Weltall fliegen. Es gäbe keine Thermostate, keine Bitcoins, keine Herzschrittmacher. Nicht einmal E-Bikes. Weil es für unsere Elektronikchips keine Rohstoffe ohne Kriege gibt. Und weil wir für den Frieden sind, wären wir selbstverständlich bereit, ohne all das auszukommen. Das wäre eine Zeitenwende. Wir würden unsere analogen Fotoapparate vom Dachboden holen, Blende und Verschlusszeit schätzen und den Frieden fotografieren. Denn egal wo, Frieden wäre Frieden.